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Wie Poirot sich in Mantel und Halstuch fühlte, weiß ich nicht, aber ich kam mir wie gebraten vor, noch ehe wir London verlassen hatten. Erst als wir die große Landstraße nach Westen gewannen, wurde mir wohler.
Wir fuhren anderthalb Stunden und kamen kurz vor zwölf in Basing an. Das Städtchen lag ein wenig abseits von der Autostraße und hatte sich infolgedessen eine gewisse altmodische Würde und Stille bewahrt. Die einzige Straße und der breite Marktplatz schienen zu sagen: «Einst war ich eine wichtige Stadt, und für Menschen von Geschmack und Herkunft bin ich es noch. Mag die neue Zeit mit ihrem Tempo auf der Autostraße dahinrasen – ich wurde in jenen Tagen gebaut, wo Dauerhaftigkeit und Schönheit noch Hand in Hand gingen.»
Ich parkte meinen Austin auf dem Marktplatz. Poirot entledigte sich seines Mantels, vergewisserte sich, dass sein Schnurrbart himmelan strebte, und dann machten wir uns auf den Weg.
«Littlegreen House?», wiederholte ein glotzender Einheimischer auf unsere Frage. «Gehn Sie nur die Hauptstraße geradeaus, Sie können es nicht verfehlen. Links, das erste große Haus nach der Bank.»
Er starrte uns nach.
«Poirot», sagte ich zu meinem Freund, «ich komme mir hier ungeheuer auffallend vor. Und Sie sehen geradezu exotisch aus.»
«Man merkt mir an, dass ich Ausländer bin, ja?»
«Es schreit zum Himmel.»
«Und doch ist mein Anzug von einem englischen Schneider.»
«Kleider allein machen noch keine Leute. Es lässt sich nicht leugnen, Poirot, dass Sie eine in die Augen springende Persönlichkeit sind. Ich wundere mich oft, dass Ihnen das bei Ihrem Beruf nie hinderlich war.»
Er seufzte. «Weil Sie die falsche Vorstellung haben, dass ein Detektiv ein Mann mit angeklebtem Bart ist, der sich hinter einem Pfeiler versteckt. Das ist vieux jeu. Ein Hercule Poirot braucht sich nur im Stuhl zurückzulehnen und nachzudenken.»
«Daher wandern wir in glühender Sonne auf dieser heißen Straße.»
«Gute Antwort, Hastings. Ein Pluspunkt für Sie.»
Littlegreen House war leicht genug zu finden, aber eine schwere Enttäuschung erwartete uns: das Schild eines Häuservermittlers. Während wir es anstarrten, hörte ich Hundegebell.
Die Heckeneinfassung war an dieser Stelle gelichtet, und man konnte den Hund sehen, einen drahthaarigen Terrier mit etwas struppigem Fell. Er stand mit gespreizten Beinen da und bellte mit sichtlichem Genuss, der seine freundschaftlichen Absichten verriet.
«Bin ich nicht ein erstklassiger Wachhund?», schien er zu sagen. «Seien Sie unbesorgt, es ist nur Spaß. Und natürlich auch meine Pflicht. Bloß damit man weiß, dass ein Hund im Haus ist. Ich langweile mich heute schrecklich. Ein wahrer Segen, dass man ein bisschen Gelegenheit zum Bellen hat.»
«Na, was ist mit dir?», fragte ich und hielt ihm die Hand hin.
Er reckte seinen Hals durch das Gitter und schnupperte argwöhnisch, dann wedelte er schwach und bellte einige Mal kurz auf.
«Habe noch nicht das Vergnügen und muss natürlich fremd tun. Aber ich sehe schon, Sie wissen, wie man Bekanntschaft schließt.»
«Braver Kerl», sagte ich.
«Wuff», antwortete er herzlich.
«Nun, Poirot?», fragte ich, das Hundegespräch unterbrechend.
Sein Gesichtsausdruck war unergründlich; er war am Besten als unterdrückte Erregung zu beschreiben.
«Der Vorfall mit dem Spielball des Hundes», murmelte er. «Nun, den Hund hätten wir.»
«Wuff», bestätigte unser neuer Freund, setzte sich gähnend hin und sah uns erwartungsvoll an.
«Was nun?», fragte ich, und der Hund schien das Gleiche zu fragen.
«Wir müssen zum Häusermakler. Wie heißen die Leute? Gabler & Co.»
«Scheint so.»
Wir machten kehrt, und unser neuer Bekannter bellte uns enttäuscht nach.
Die Firma Gabler & Co. hatte ihr Büro am Marktplatz. Eine junge Frau mit Polypen in der Nase und stumpfem Blick empfing uns. Sie telefonierte gerade und deutete, während sie sprach, auf einen Stuhl; ich schob einen zweiten neben Poirot, und wir setzten uns.
«Kann ich wirklich nicht sagen», antwortete sie in den Apparat. «Nein, ich weiß leider nicht, wie hoch die Abgaben sind… Wie, bitte? Ja, ich glaube, Wasser ist eingeleitet, aber ich weiß es nicht sicher… Nein, er ist nicht im Büro… Ja, ich werde ihn fragen… wie war die Nummer? 81-32? Ach, so… 89-32… 33… Ah, 51-32… Ja, er wird Sie anrufen… nach sechs… Verzeihung, vor sechs… Ja, danke sehr.»
Sie legte den Hörer auf, kritzelte die Nummer 53-19 auf ein Löschblatt und richtete den teilnahmslosen Blick auf Poirot.
«Wie ich sehe», begann er lebhaft, «ist am Stadtrand ein Haus zu verkaufen. Littlegreen House war der Name, glaube ich.»
«Wie, bitte?»
«Ein Haus zu vermieten oder zu verkaufen», wiederholte Poirot langsam und deutlich. «Littlegreen House.»
«Littlegreen House, sagen Sie?»
«Ja, Littlegreen House.»
«Littlegreen House», wiederholte sie mit sichtlicher geistiger Anstrengung. «Mr Gabler wird das vielleicht wissen.»
«Kann ich ihn sprechen?»
«Er ist nicht im Büro», antwortete sie mit kümmerlicher Genugtuung, wie wenn jemand sagt «Pluspunkt für mich».
«Wissen Sie, wann er kommt?»
«Das weiß ich wirklich nicht.»
«Sie verstehen mich doch? Ich möchte mich in der Nähe niederlassen, und Littlegreen House scheint mir gerade geeignet. Können Sie mir eine Beschreibung geben?»
Unwillig öffnete sie eine Schublade und nahm eine unordentliche Mappe heraus. Dann rief sie: «John!»
Ein schlaksiger Junge, der in der Ecke saß, blickte auf. «Ja, Miss?»
«Haben wir eine Beschreibung von – wie war der Name?»
«Littlegreen House», antwortete Poirot deutlich.
«Hier hängt doch ein großes Plakat von Littlegreen House», sagte ich und wies auf die Wand.
Sie sah mich kalt an. Zwei gegen einen – schien sie zu denken –, wie unfair! «John» – sie rief Verstärkung herbei –, «wissen Sie etwas über Littlegreen House?»
«Nein, Miss. Müsste in der Mappe sein.»
«Leider scheinen wir alle Prospekte weggegeben zu haben.»
«Schade.»
«Aber wir hätten ein hübsches Landhaus in Hemel End, zwei Schlaf-, ein Wohnzimmer», sagte sie lustlos, nur um ihrer Pflicht zu genügen.
«Danke, nein.»
«Und eines mit Gewächshaus. Von dem könnte ich Ihnen die Beschreibung geben.»
«Danke, nein. Ich wollte wissen, wie hoch die Miete für Littlegreen House ist.»
«Es ist nicht zu vermieten. Nur zu verkaufen.»
«Auf dem Schild steht: zu vermieten oder zu verkaufen.»
«Davon weiß ich nichts. Aber es ist nur zu verkaufen.»
So stand der Kampf, als ein grauhaariger Herr ins Büro stürmte und uns einen streitbaren Blick zu warf. «Das ist Mr Gabler», sagte die Angestellte.
Der Häuservermittler öffnete schwungvoll die Tür zu seinem Privatbüro. Als wir Platz genommen hatten, fragte er: «Womit kann ich Ihnen dienen?»
Standhaft begann Poirot von neuem: «Ich wollte eine Beschreibung von Littlegreen House – »
Weiter kam er nicht, denn Mr Gabler übernahm die Führung. «Ah, Littlegreen House – ein Prachtobjekt! Ein Gelegenheitskauf. Wird eben erst angeboten. Ich kann Ihnen verraten, meine Herren, dass wir nur selten ein solches Haus zu diesem Preis an der Hand haben. Heute kehrt man wieder zu solid gebauten Häusern zurück, Häusern mit Stil. Littlegreen House wird uns aus der Hand gerissen werden! Aus der Hand gerissen! Ein Parlamentsmitglied war letzten Samstag hier, um es zu besichtigen, und es gefiel ihm so gut, dass er diesen Samstag nochmals kommt. Es wird bald verkauft sein.»
«Hat es in den letzten Jahren öfters den Besitzer gewechselt?», erkundigte sich Poirot.
«Im Gegenteil! Seit fünfzig Jahren Eigentum der Familie Arundell. Hoch angesehene Familie. Damen vom alten Schlag.» Er stand auf und rief zur Tür hinaus: «Rasch den Prospekt von Littlegreen House, Miss Jenkins!» Dann setzte er sich wieder. Miss Jenkins flitzte mit einem maschinengeschriebenen Blatt herein, das sie vor ihren Chef legte; er entließ sie mit einem Nicken.
«Hier!», sagte Mr Gabler und las mit Windeseile: «Stilvolles Haus; vier Wohn-, acht Schlafzimmer, übliche Nebenräume, große Küche, geräumige Nebengebäude, Ställe usw. Alter Garten, geringe Instandhaltungskosten, 12000 Quadratmeter, zwei Sommerlauben usw. usw. Verhandlungspreis 3000 Pfund.»
«Können Sie mir einen Besichtigungsschein geben?»
«Gewiss, gewiss.» Mr Gabler begann schwungvoll zu schreiben. «Ihr werter Name?»
Zu meiner gelinden Überraschung nannte sich mein Freund Mr Parotti.
«Wir haben noch einige andere Häuser an der Hand, die Sie vielleicht interessieren werden.»
Poirot ließ sich noch zwei andere Anschriften geben und fragte dann: «Wann kann das Haus besichtigt werden?»
«Jederzeit, Sir. Das Personal ist noch dort. Ich werde gleich anrufen. Gehen Sie jetzt hin? Oder nach Tisch?»
«Lieber nach Tisch.»
«Nach Belieben. Ich werde anrufen und veranlassen, dass man Sie gegen zwei erwartet. Passt Ihnen das?»
«Ja, danke. Die Besitzerin des Hauses ist eine Miss Arundell, sagten Sie?»
«Lawson. Miss Lawson heißt die jetzige Besitzerin. Miss Arundell starb leider vor kurzem, sonst würde das Haus nicht zum Verkauf stehen. Es wird uns aus den Händen gerissen werden, und ich kann Ihnen nur den Rat geben, Ihr Angebot möglichst bald zu machen, damit Ihnen niemand zuvorkommt.»
«Miss Lawson möchte das Haus gern los sein?»
Der Vermittler dämpfte vertraulich die Stimme. «Das ist es. Das Haus ist ihr zu groß – sie ist eine alleinstehende, nicht mehr junge Dame und möchte ein Haus in London haben. Begreiflich! Deshalb ist Littlegreen House so lächerlich billig zu kaufen.»
«Miss Arundell starb wohl ganz plötzlich?»
«Möchte ich nicht behaupten. Das Alter, Sir, das Alter. Sie war über siebzig und kränkelte seit Langem. Sie war die Letzte ihrer Familie – kannten Sie die Familie vielleicht?»
«Ich habe Bekannte, die auch so heißen und hier Verwandte haben. Wahrscheinlich ist es dieselbe Familie.»
«Höchstwahrscheinlich. Vier Schwestern waren es. Eine heiratete ziemlich spät, die anderen drei verbrachten ihr ganzes Leben hier. Damen von altem Schrot und Korn. Miss Emily war die letzte von ihnen. Im ganzen Ort hoch angesehen.»
Mr Gabler reichte Poirot den Besichtigungsschein. «Kommen Sie auf einen Sprung vorbei, um mir zu sagen, wie es Ihnen gefällt? Es müsste natürlich dies und das ein bisschen modernisiert werden, aber damit muss man eben rechnen. Was ist schließlich ein neues Badezimmer? Eine Kleinigkeit.»
Als wir uns verabschiedet hatten, hörten wir, wie Miss Jenkins meldete: «Mrs Samuels hat angerufen. Sie sollen sie anläuten – Holland Park 53-91.»
Ich erinnerte mich deutlich, dass dies weder die Nummer war, die Miss Jenkins auf ihren Löschblock gekritzelt hatte, noch die Nummer, auf die man sich schließlich am Telefon geeinigt hatte. Vermutlich war das Miss Jenkins’ Rache, weil sie die Beschreibung von Littlegreen House hatte suchen müssen.